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Fragen an Ulrich Weber

2021 ist Dürrenmatt-Jahr – der Autor wäre am 5. Januar 100 Jahre alt geworden. Wir sprachen im Januar 2021 mit Ulrich Weber, dessen neue, umfangreiche Biographie wenige Monate zuvor erschienen ist.

Im Herbst 2020 ist Ihre umfassende Biographie zu Friedrich Dürrenmatt erschienen, die 750 Seiten umfasst. Wie lange haben Sie an dem Werk gearbeitet? Was war für Sie bei diesem großen Projekt am Schwierigsten?

Ich habe vor etwa acht Jahren die ersten Ideen zu dieser Biographie notiert. Da ich den Nachlass von Friedrich Dürrenmatt seit langem sehr gut kannte und schon vor Beginn der Arbeit an der Biographie sehr viele Gespräche mit Personen aus dem nahen Umfeld Dürrenmatts geführt und aufgezeichnet hatte, fiel mir die Niederschrift relativ leicht, ich schrieb jeweils im Urlaub jeden Tag 2-3 Stunden daran.

Am schwierigsten war für mich die Bemühung, Dürrenmatt als Privatfigur, als Familienvater und Ehemann gerecht zu werden. Es lag mir daran, möglichst nahe an ihn heranzukommen, ohne voyeuristisch zu werden, die Konstellationen respektvoll und doch nicht beschönigend darzustellen. Ich habe früh mit den Kindern von Dürrenmatt Kontakt aufgenommen, ich wollte ein Porträt ihres Vaters und der Familie publizieren, das für sie akzeptabel war.

„Dies ist die Biographie eines Literaturwissenschaftlers, für den die Faszination des literarischen Werks im Zentrum steht. Das Leben ist nicht die Erklärung des Werks, das Werk nicht die Erklärung des Lebens.“ (Seite 23), so schreiben Sie in der Einleitung zu Ihrer Dürrenmatt-Biographie. Trifft dies auch so auf Friedrich Dürrenmatt zu? Gibt es vielleicht Beispiele, wo Dürrenmatts Leben sein Werk beeinflusst hat und umgekehrt?

Obwohl Dürrenmatt immer wieder betonte, er schreibe nicht aus eigenem Erleben heraus sondern entwerfe Gegenwelten, gibt es doch erstaunlich viele Verbindungen zwischen Leben und Werk.

So hat er immer wieder auf Schauplätze zurückgegriffen, die er aus seinem Leben kannte – am bekanntesten die Szenerie von „Der Richter und sein Henker“ am Bielersee, wo ja der Mord in unmittelbarer Nachbarschaft seines damaligen Wohnsitzes geschieht und er sich selbst als Schriftstellerfigur auftreten lässt.

Aber auch in späten Texten wie „Der Auftrag“ spielt das Leben ins Werk hinein: Die Idee zu dieser Novelle geht auf die Idee seiner zweiten Frau zurück, Ingeborg Bachmanns Roman „Der Fall Franza“ zu verfilmen. Statt des Films seiner Ehefrau entstand Dürrenmatts Novelle, in der eine Frau die Hauptrolle spielt, die in vieler Hinsicht seiner zweiten Ehefrau gleicht. Und auch sich selbst hat er im „Logiker D.“ in die Novelle hineingeschmuggelt.

Sie haben den Autor nie persönlich getroffen. War das ein Vor- oder ein Nachteil? Was würden Sie ihn heute fragen, wenn Sie die Möglichkeit dazu hätten, über was würden Sie sich gerne mit ihm unterhalten?

Ich habe es als Vorteil empfunden; ich habe nicht versucht, ‚den‘ richtigen Dürrenmatt darzustellen, sondern ein plausibles Porträt aus den unzähligen Zeugnissen, die es von ihm und über ihn gibt, zu entwickeln, im Bewusstsein, dass man auch ein anderes Porträt zeichnen könnte.

Ich würde ihn gerne fragen, warum er so sehr versessen auf das Theater war, dass er alle anderen literarischen Projekte stets liegen ließ, wenn er die Chance hatte, eine Theaterarbeit zu realisieren.

Und wenn er heute noch lebte, würde ich sehr gerne von ihm hören, was er zur heutigen Weltlage meinen würde: Eine Situation mit unkontrollierbarer Pandemie, einem irrwitzigen amerikanischen Präsidenten, einer zunehmenden Zerstörung der eigenen Lebensgrundlagen durch den Menschen und einem grassierenden religiösen Fanatismus – allesamt Phänomene, die ihn in seiner skeptischen Weltsicht bestätigen müssten.

Welches Buch von Dürrenmatt ist Ihr persönliches Lieblingsbuch? Welches würden Sie Lesekreisen für eine Diskussion empfehlen – und warum?

Für mich sind Dürrenmatts „Stoffe“ (mit den Bänden „Labyrinth: Stoffe I-III“ und „Turmbau: Stoffe IV-IX“) sein persönlichstes Buch und gehören zum Besten, was er geschrieben hat. Sie sind allerdings in vieler Hinsicht schwer; Dürrenmatt geht teilweise in seinen Darstellungen von Gewalt und Sexualität an die Grenze des Erträglichen (im „Winterkrieg in Tibet“) und flicht viel Philosophisches in den autobiographischen Text ein, der mit Erzählungen kombiniert wird. Einem Lesekreis, der solche Herausforderungen nicht scheut, kann ich diesen Werkkomplex sehr empfehlen.

Leichter verdaulich ist etwa „Grieche sucht Griechin“, im Untertitel als „Prosakomödie“ bezeichnet – eine Art Liebesgeschichte um einen tumben Tor, die für mich viel Charme hat und doch auch typisch Dürrenmattsche Groteske bringt.

Für eine Lesegruppe, die sich gerne mit Kriminalromanen beschäftigt, ist natürlich „Das Versprechen“ eine sehr fruchtbare Lektüre.

Manche Lesekreise ergänzen bei ihren Treffen die Diskussion eines Buches mit einem zum Autor, seiner Heimatregion oder dem Thema des Buches passenden Snack, Gericht und einem Getränk. Welche würden Sie empfehlen?

Wer sich bei der Lektüre vom Essen leiten lassen will, sollte die Erzählung „Die Panne“ lesen und zugleich das dort verzehrte Menü kochen. Dürrenmatt war ein Fleischesser: So liebte er etwa die deftige „Bernerplatte“ mit Würsten, Speck, Rippchen, Sauerkraut und Kartoffeln (die er allerdings als schwerer Diabetiker nicht essen durfte).

Und bei der Dürrenmatt-Lektüre sollte man mit einem guten Bordeaux-Wein anstoßen, auch wenn die alten Grand-Cru-Weine, die er in seinem Keller hatte und gerne trank, heute unbezahlbar sind.

Über Ulrich Weber

Ulrich Weber, geboren 1961, Kurator des Dürrenmatt- Nachlasses im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern, hat Lehraufträge an verschiedenen Schweizer Universitäten wahrgenommen.

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    Zum Einstieg in Fosses Werk bietet sich seine 2003 veröffentlichte Novelle an. Auf nur 120 Seiten finden sich dort der Stil und die existentiellen Fragen des Menschseins, für die Fosse bekannt ist.

    Wir stellen den Roman und den Autor vor, inklusive passender Diskussionsfragen.

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    Besonderer Buchtipp:

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    Dennoch fordern sie keine Rache, sondern halten gemeinsam Vorträge darüber, dass nur Kommunikation und ein Verständnis für den anderen zu einem Frieden im Nahen Osten führen können.

    Das Buch erschien bereits 2020 und ist doch aktueller denn je.

    Wir stellen den Roman und den Autor ausführlich vor. Zusätzlich gibt es passende Diskussionsfragen für eine Besprechung im Lesekreis.

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    Unser Thema des Monats:

    22 Bahnen von Caroline Wahl ist Lieblingsbuch der Unabhängigen Buchhandlungen

    Seit 2015 küren die unabhängigen Buchhandlungen ihr Lieblingsbuch.

    Die Nominierten für 2023 waren:

    Elena Fischer: „Paradise Garden“
    Milena Michiko Flašar: „Oben Erde, unten Himmel“
    Rónán Hession: „Leonard und Paul“
    Jarka Kubsova: „Marschlande“
    *Caroline Wahl: „22 Bahnen“ (Lieblingsbuch)

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